Herr Professor Utsch, was haben Sie gedacht, als Sie von der Amoktat mit acht Toten in einem Versammlungssaal der Zeugen Jehovas in Hamburg gehört haben?

Julia Schaaf

Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

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Das passt überhaupt nicht, habe ich gedacht, weil die Zeugen Jehovas ja sehr bibelgläubig sind. Mord und Totschlag sind streng verboten, das Töten von Menschen ist tabu.

Inzwischen heißt es allerdings, der Täter könnte ein ehemaliges Mitglied der Glaubensgemeinschaft gewesen sein.

Das verändert die Lage, da denkt man natürlich an Rache, an Abrechnung. Es gibt eine neue Studie von einer Stressforscherin an der Universität Zürich, die unter anderem Aussteiger der Zeugen Jehovas untersucht hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass so ein Ausstieg ein absolut stressvolles Ereignis ist. In gewissen Lebensphasen kann eine geschlossene enge Gemeinschaft Halt und Orientierung geben. Man fühlt sich aufgehoben, das ist Sinnstiftung. Aber wenn das Korsett zu eng wird, wenn man raus will, dann wird es schwierig. Dann stürzen viele Menschen auch in seelische Schwierigkeiten. Damit es allerdings zu einer so gravierenden Kurzschlusshandlung kommt, muss wahrscheinlich doch eine seelische Vorerkrankung vorgelegen haben.

Was meinen Sie genau mit „geschlossene enge Gemeinschaft“?

Die Organisation ist hierarchisch strukturiert, die Regeln sind wirklich strikt, und durch diese sogenannten Zweierschaften gibt es eine gegenseitige Kontrolle. Den Zeugendienst macht man immer zu zweit. Das kennen Sie doch, wenn die Zeugen bei Ihnen an der Haustür klingeln oder an Bahnhöfen missionieren.

Wobei ich den Eindruck habe, dass mir das seltener begegnet als früher.

Durch Corona ist das ein bisschen weniger geworden, aber das fährt jetzt wieder hoch. Diese Zweierschaften sind eine Mischung aus wechselseitiger Unterstützung und Kontrolle. Einerseits erleben die Zeugen viel Ablehnung. Andererseits wird ein Berichtsheft angelegt, in die wöchentlichen Stunden im Zeugendienst nachgewiesen werden müssen und das beim Gemeindevorsteher eingereicht wird. Das ist schon sehr kontrollierend.

Woran glauben die Zeugen Jehovas?

Es handelt sich um eine biblische Endzeitbewegung. Sie glauben an Gott, den Schöpfer, aber sie glauben eben auch, dass nur die rechtschaffenen und sich richtig verhaltenden Menschen Anteil an der ewigen Gemeinschaft mit Gott haben werden. Einzelne Bibelverse legen sie sehr radikal aus, zum Beispiel die Vorstellung von den 144.000, also den 144.000 Geretteten, die einmal im Himmelreich mit Gott regieren werden. Das ist ein Vers aus der Offenbarung. Ich finde das spannend: Kurz vor Ostern feiern die Zeugen Jehovas das Gedächtnismahl, das ist vergleichbar mit dem christlichen Abendmahl, es findet aber nur einmal jährlich statt. Von den Gaben, die dort in der Versammlung herumgereicht werden, dürfen nur besagte 144.000 nehmen. Weil so viele Zeugen Jehovas seit der Gründung der Gemeinschaft im 19. Jahrhundert aber schon gestorben sind, ist der Himmel sozusagen voll. Also gehen die Gaben durch den Raum, und keiner nimmt davon. Ich habe das einmal erlebt und fand es bedrückend. Es ist ganz anders als die christliche Einladung, bei jedem Abendmahl symbolisch an der Gemeinschaft mit Gott teilzuhaben.

Aber was ist denn dann das Heilsversprechen für die Gläubigen heute, für die kein Platz mehr im Himmel ist?

Ach, da gibt es immer wieder Lösungen. Da heißt es dann beispielsweise, sie werden mit Jesus auf dieser Erde weiter regieren oder so etwas. An der Spitze der Zeugen Jehovas steht eine achtköpfige Männertruppe in New York, die sich leitende Körperschaft nennt und das ganze Lehrsystem ausrichtet. Das ist alles super strukturiert. Die Neue-Welt-Übersetzung der Bibel gibt es in 800 Sprachen, die Zeitschrift „Der Wachtturm“ ist die auflagenstärkste Zeitschrift der Welt.

Beeindruckend.

In Selters im Taunus, der deutschen Zentrale, steht eine der modernsten Druckereien Europas, wobei die Zeugen Jehovas in den letzten Jahren sehr konsequent aufs Digitale setzen. Wenn Sie zu so einer Versammlung gehen, zu einem Bibelstudium wie am Donnerstagabend in Hamburg, werden die meisten Menschen mit Tablet und Handy unterwegs sein. Früher hieß das „Traktatmission“, man hat also mit Schriften für den eigenen Glauben geworben. Heute machen die Zeugen Jehovas das auf sehr professionelle Weise digital. Die Website ist phänomenal.

Wie viele Mitglieder haben die Zeugen Jehovas in Deutschland?